Nachbarn treffen sich abends zum Singen
Der Soldat in Saddam Husseins Armee, der zu der Überzeugung gelangte, dass er nicht mehr töten konnte
Jacoub Sheghram 1958 –
Die Ehe von Jacoubs Eltern war arrangiert worden und da sie miteinander nicht glücklich wurden, ließen sie sich scheiden, als er zwei Jahre alt war. Er wurde von seinem Vater groß gezogen, der ihn verwöhnte, auf die besten Schulen Bagdads schickte und ihn in seiner Liebe zu Musik und Sport ermutigte. Ihre Urlaube verbrachten sie in den malerischen Bergen des nördlichen Irak, in Luxushotels mit Live-Bands und Tanzabenden am Pool . Jedes Jahr fuhren sie außerdem eine Tante im Libanon besuchen. Ihr Sommerhaus lag in einem kleinen Dorf, das so schön war, dass es sich für Jacoub „wie das Paradies auf Erden“ anfühlte.
1976 schrieb Jacoub sich an der Universität von Bagdad ein, um Verfahrenstechnik zu studieren. Vier Jahre später, im Jahr 1980, brach zwischen Irak und Iran ein Krieg aus.
Das Land war schon bald von Furcht eingenommen. Sirenen heulten in den Städten, sobald iranische Flugzeuge auftauchten. Während die meisten sich dann beeilten, einen Zufluchtsort zu finden, gab es auch Leute, die stehenblieben und den Kampf der irakischen und iranischen Kampfjets über unseren Köpfen verfolgten. Es dauerte nicht lange, bevor „Kriegsmärtyrer“ zurückkehrten: Taxis mit Särgen auf dem Dach, bedeckt mit einer Flagge, waren in allen Straßen zu sehen.
1981 wurde Jacoub eingezogen. „Niemand wollte zur Armee, aber wir hatten keine Wahl. Wehrdienstverweigerer wurden hingerichtet.“ Nach der sechsmonatigen Grundausbildung wurde er in eine Marineeinheit in Basra versetzt, wo er überraschend von der gefürchteten irakischen Militärpolizei verhaftet wurde. Sein Bart hatte nicht die vorgeschriebene Länge. „Ich wurde eingesperrt wie ein Verbrecher. Später erfuhr ich, dass der Sergeant dieser Polizeieinheit eine Zielvorgabe von fünfzig Verhaftungen am Tag ausgesprochen hatte. Ich war einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen.“
Im Militärgefängnis waren Jacoub und fünfzig weitere Männer gezwungen, in einem überhitzten, stinkenden, verschlossenen Schiffscontainer zu hausen. Es war Sommer, die Latrine bestand aus einem offenen Eimer. Es gab zu wenig Platz, um sich zum Schlafen hinzulegen; man konnte nur etwas dösen, während man sich gegen einen anderen Insassen lehnte. Im Gefängnis lernte Jacoub Männer kennen, die bis zu zehn Jahre abzusitzen hatten. Zu seinem Glück war er in der Lage, eine schnelle Entlassung auszuhandeln, da er einen der Lieutenants zufällig aus dem Studium kannte.
So kehrte Jacoub zu seiner Einheit zurück und diente dort achtzehn Monate lang im Bautrupp. Anschließend erhielt er eine Kampfausbildung und wurde dann an eine Einheit an der Front versetzt.
Ich musste erst zum Militär gehen, um die bittere Wahrheit über das Leben in meinem Land zu erkennen: Es herrschten unverhohlene Ungleichheit, Ungerechtigkeiten aller Art, institutionalisierte Sklaverei und überall wurden Freiheiten eingeschränkt – insbesondere die Redefreiheit. Unsere ganze Gesellschaft schien auf Heuchelei und Falschheit aufgebaut zu sein, doch in der Armee trat dies besonders deutlich zutage. Die Räder der ganzen Maschinerie wurden geölt mit Bestechungsgeldern, Vetternwirtschaft und Manipulation im Hintergrund.
Während des Krieges gab die Regierung dem hochrangigen Militärpersonal große materielle Anreize: dicke Gehälter und größere Baudahrlehen sowie weitere Vorteile. Beispielsweise gab die Regierung jedem Paar, das heiratete, einen „Ehezuschuss“ über eintausend Dinar, aber Militärangehörige erhielten dreimal so viel. Was noch unglaublicher war: Soldaten konnten ein Auto für einen Dinar kaufen. Von ihrem Rang hing ab, ob sie dafür einen VW Passat, einen Mercedes oder irgendetwas dazwischen bekamen. Wer die Mittel dazu hatte, konnte sich aus der Armee freikaufen. Alte und behinderte Männer wurden an die Front geschickt, während solche mit politischen Verbindungen in den hinteren Reihen oder in den Städten blieben.
Ich fing an zu fragen: „Welchem Zweck dient dieser Krieg? Wer profitiert davon?“ So weit ich sah, waren es hohe Regierungsbeamte und hochrangige Militärs, die mit Gier und Betrug ein Vermögen machten. Die Waffenhersteller, die hunderte Millionen verdienten. Die Politiker, die die Kriegsmaschinerie zu ihrem persönlichen Vorteil nutzten, während sie laut nach „Freiheit und Demokratie“ riefen.
Unterdessen erreichten die Särge der Toten auch die kleineren Städte und Dörfer. Wie ein tödlicher Mähdrescher erntete der Krieg tausende Seelen auf beiden Seiten der Kampflinien. Viele, die nicht getötet wurden, verloren Gliedmaßen oder erlitten andere schwerwiegende Verletzungen. Schon bald gab es tausende Witwen und Waisen. Unzählige Menschen verloren ihre Häuser, ihre Arbeit, ihr Geschäft oder ihren Hof und wurden zu Flüchtlingen. Noch schlimmer war, dass die Menschen ihre ethischen Prinzipien verloren. Eine tiefe Depression erfasste das Land.
An der Front stellte Jacoub bald nicht mehr nur den Krieg infrage, in dem er kämpfte, sondern Krieg im Allgemeinen:
Niemand kann wirklich den Schrecken des Krieges kennen, bis er an einem Kampf beteiligt gewesen ist: der ohrenbetäubende Lärm, die explodierenden Granaten auf allen Seiten, die Schreie und die blutigen, verstümmelten Körper von Menschen, die Augenblicke zuvor noch Kameraden waren. Einer meiner Verwandten, Hunnah, floh während einer Offensive gemeinsam mit einem Freund aus einer gefährlichen Situation. Im Rennen weiteten sich seine Augen vor Entsetzen: Sein Freund war von einem Granatsplitter geköpft worden, doch sein Körper rannte noch einige Meter weiter, bevor er in sich zusammenfiel. Hunnah fiel in Ohnmacht. Als er wieder zu sich kam, war er so traumatisiert, dass er einen Monat im Krankenhaus verbringen musste, obwohl ihm körperlich nichts fehlte.
Ich betrat einen Raum im Vorhof der Hölle und traf dort auf fahle Gesichter, gezeichnet von Grauen und Erschöpfung. Selbst die härtesten Männer wurden hier zu Kindern, die weinten und am Boden kauerten. Wohin ich mich auch wendete, sah ich das Schreckgespenst des Todes.
Der Feind war häufig nur fünfundsiebzig Meter entfernt von uns. Bomben, Kugeln und Granatsplitter flogen ständig in alle Richtungen. Auf beiden Seiten gab es Tote und Sterbende. Es war die reinste Folter – nicht nur wegen den Schrecken des Krieges, sondern auch wegen meiner eigenen Schuld.
Gemeinsames Adventsfrühstück
Die Tradition, dass die Schule mit dem Läuten der Glocke anfängt, geht auf die ersten Anfänge des Bruderhofs im Deutschland der 1920er Jahre zurück.
Zu jener Zeit erlebte Jacoub eine dramatische Bekehrung, die den Lauf seines Lebens veränderte. Jahre später beschreibt er es so, dass eine Stimme in seinem tiefsten Innern schrie: „Genug!“ Er suchte den Priester in der nächstgelegenen Kirche auf und vertraute ihm im Dunkel eines Beichtstuhls alles an, was ihn belastete. „Als ich herauskam, fühlte ich mich leicht wie eine Feder und war voller Freude und Hoffnung. Das war der wichtigste Moment in meinem Leben. Es fühlte sich an, als ob ein Schleier gehoben worden war, und nun konnte ich alles in einem deutlicheren Licht sehen – dem Licht Gottes.“
Auf einmal ergab das Gebot Jesu, seine Feinde zu lieben und Böses mit Gutem zu vergelten, absolut Sinn. Genauso wie seine Warnung, dass wer „das Schwert nimmt“ (vgl. Matthäus 26,52) dadurch getötet wird:
Jesus weigerte sich, sich selbst zu verteidigen. Wie konnte ich mich also selbst mit Gewalt verteidigen und gleichzeitig als sein Nachfolger bezeichnen? Ich konnte andere nicht mehr hassen; ich musste sie lieben – alle Menschen lieben. Ich hatte die Freude der Vergebung erlebt, ein Geschenk, durch das ich innere Sicherheit und wahren Frieden erfuhr.
Ich fing an zu sehen, dass Krieg nur den menschlichen Zustand widerspiegelt. Wenn wir aufhören, auf unser Gewissen zu hören, wenn wir uns für Zorn und Hass öffnen, wenn wir unser Herz vor unseren Mitmenschen verschließen, dann ist Krieg unausweichlich – ob das nun ein Streit innerhalb der Familie ist oder die Art von Flächenbrand, die ganze Länder auseinanderreißt. Und wenn ich einsehe, dass ich Teil jeder Ursache für Krieg bin, kann ich dann nicht genauso Teil des Friedensprozesses sein? Ich sah, wie Vergebung Grenzen niederreißen und den Weg für liebende und harmonische Beziehungen bereiten kann. Ich wusste: Ich konnte ein Instrument sein, um Gewalt zu bekämpfen.
Jacoub erzählt in seiner Autobiografie „I Put My Sword Away“, dass er zuerst erwog, einfach zu seinen Vorgesetzten zu gehen und seine Position darzulegen. Doch das schien leichtsinnig, denn auf Befehlsverweigerung stand die Todesstrafe und er kannte zudem keine Gemeinde oder Kirche, die ihn unterstützt hätte. Eine weitere Option, die er erwog, war, zur iranischen Seite überzulaufen. Doch dies war nur solange eine Versuchung für ihn, bis er darüber nachdachte, was das für seine Familie bedeutet hätte. Mit Sicherheit hätte man sie befragt und schikaniert. Eine weitere Möglichkeit bot sich durch seinen akademischen Hintergrund: Er hätte sich freiwillig für die zivilen Streitkräfte melden oder auf einen militärnahen Posten im zivilen Sektor bewerben können. „Das beruhigte mein Gewissen natürlich auch nicht wirklich. Schließlich würde ich so genauso zu Gewalt beitragen, als wenn ich tatsächlich an der Front kämpfte.“ Eine letzte Option, die er erwog, war für den irakischen Geheimdienst zu arbeiten.
Bald jedoch erkannte ich, dass all diese Wege nur Kompromisse mit dem Teufel waren. Und hatte Jesus nicht gewarnt: „Was nützt es dir, die ganze Welt zu gewinnen, wenn du dabei dein Leben verlierst?“ Also kam ich zu dem Schluss, dass ich keine andere Wahl hatte, als in der Armee zu bleiben und zu beten, dass der Krieg bald endete. Ich schwor mir jedoch, wenn ich mich Auge in Auge mit einem Feind befand, würde ich nicht töten, sondern mich lieber selbst töten lassen. Diese Entscheidung kostete mich eine Menge Tränen und lange Gebete um Gottes Kraft. Aber als ich sie einmal getroffen hatte, war ich entschlossen, daran festzuhalten.
Mehr von Jacoubs Geschichte erfährst du in seiner Autobiografie “I Put My Sword Away“.